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Ist »Die Abschaffung der Arten« ein utopischer Roman? Oder ein dystopischer, wie »1984« von George Orwell und »Brave New World« von Aldous Huxley?                 

 

Das Wort »Utopie« liegt mir nicht; es heißt ja soviel wie »nirgends« – was nirgends passiert, ist uninteressant; jedenfalls uninteressanter als alles, was in Ost-Texas, Anatolien oder Sachsen passiert. Ich mag an Science Fiction, auch an derjenigen, die sich utopisch nennt oder als utopisch mißversteht (obwohl sie in Wirklichkeit ganz schön topisch ist), unter anderem, daß sie sagt: Dies ist nicht nirgends, dies ist übermorgen. Damit zwingt sie dazu, sich ganz anders für die gebotenen Schaustücke zu interessieren, als wenn es hieße: Mein Gedankenspiel hänge ich in den luftleeren Raum. Freilich gibt es, das Gesagte vorausgesetzt, schöne utopische Bücher, auch kluge: »Neu-Atlantis« von Bacon zum Beispiel, oder die drei »Golden Age«-Bände von John C. Wright. Aber die werden immer regiert vom vorausweisenden, prognostischen Zug, ihr eher atmosphärisches »Nirgendwo« ist im Grunde ein bißchen unaufrichtig, Scheineskapismus, verkappte Programmatik. »Übermorgen«: da bin ich als Mensch, der über die Konsequenzen des Gegebenen nachdenken kann, direkt zur Zustimmung oder zur Ablehnung aufgefordert: Stimmt das wirklich, gibt es die Keime für das, was da angeblich kommen soll, oder steckt vielleicht eine ganz falsche Analyse der Gegenwart dahinter?

»Dystopie« ist nicht nur eine häßliche, sperrige Wortquetschung, sondern die damit gemeinte Schreibmanier scheint mir auch die blödeste unter allen spekulativen zu sein. Die Utopisten geben ihre Naivität wenigstens zu, sie führen uns ins Häschenland und sagen: Ist es nicht schön hier? Das mag treudoof sein, aber es berührt doch als immerhin tendenziell menschenfreundlich. Die Warner und Abschrecker dagegen wollen zwar partout so faul sein, sich die künftige Welt als eine eindeutige, nicht mehr widersprüchliche vorstellen zu dürfen, genau wie die Utopisten, bei denen alles eitel Sonnenschein ist, aber im Gegensatz zu jenen möchten die Dystopiker bei ihrer infantilen Beschäftigung auch noch für mordsmäßig intelligent gelten. Also malen sie alles in grauenhaften Farben, weil ja der liebste Aberglaube des Feld-, Wald- und Wiesenintellektuellen gewohnheitsmäßig derjenige ist, Meckern und Jammern wären allemal tauglicher zum Beweis von Geist als Schwärmen und Sichfreuen. Stimmt natürlich nicht. Die Frage ist doch: Wird intelligent gemeckert, intelligent geschwärmt, oder töricht?

Weil ich relativ klare Vorstellungen davon habe, wie ich die gesellschaftliche Welt gern hätte (Stichwort: Sozialismus), hat mich ein lieber Österreicher neulich in bester Absicht als »Optimisten« beschimpft. Da steckt ein aufschlußreicher Denkfehler drin: Wer sagt, ich hätte gern was Leckeres zum Abendessen, sagt damit natürlich nicht, daß er glaubt, er bekäme es auch. Ich vermute, es wird alles immer besser und immer schlechter, je nachdem. Dementsprechend ist in der Geschichte, die das Buch »Die Abschaffung der Arten« erzählt, einiges besser und einiges schlechter als jetzt.

Wo es sich in einem spekulativen Text so verhält, muß man beim Lesen ein bißchen mehr mitbringen und leisten als da, wo nur gejubelt oder gedroht wird. Es stellt sich die Frage: Halte ich die Vorteile der Welt, von welcher der Autor lügt, sie werde in 500 Jahren die gegebene sein, für groß genug, daß ich mich, wenn ich sie bewohnen müßte, mit den Nachteilen abfinden könnte?

Das ist ein Denken in Kategorien wie zwar-aber, einerseits-andererseits, Kritik und Konstruktion, kurz, ein dialektisches Denken. Ich finde, das macht im Kopf mehr Bewegung und mithin mehr Spaß (»Funktionslust« sagen die Psychoanalytiker) als stundenlanges Nicken oder Kopfschütteln.

Die Figuren im Buch: dieser planende und ordnende Löwe, dieser Fuchs, der ein Finanzgenie ist, diese heimtückische und schöne Luchsin, dieser tapfere und neugierige Wolf – sind solche Gestalten den Helden in deinen anderen Büchern intellektuell und moralisch über- oder unterlegen? Es handelt sich schließlich um Tiere – heißt das, es geht bei ihnen um andere Tugenden als bei deinen Romanhelden sonst?

Tatsächliche Tiere zeigen oft eine Form von Intelligenz, die direkt aus der schweren Unfreiheit kommt, nicht wirklich denken zu können. Sie haben eine Nonchalance beim Töten, ein Charisma beim Umherschweifen, ihnen sind Eigenschaften gegeben, wie sie in der schönen Formulierung »Coyote Genius« bei Holly Menino anklingen. Menschengesellschaften dagegen zeigen im symmetrischen Gegenzug hierzu eine besondere Form der Dummheit, die aus dem Denkenkönnen stammt: Weil alle sich vorstellen können, welche Konsequenzen ihr Handeln zeitigen könnte, weil alle Angst haben, von den Herrschenden bestraft zu werden, wenn sie aufmucken, halten sie still.

Man vergleiche das mit einer Antilopenherde: Wenn der Löwe sich nähert, geraten keineswegs sofort alle in Panik. Erst wenn er zuschlägt, rennen sie los – warum? Nicht aus Coolness, nicht aus intestinal fortitude, nicht, weil sie solche harten Brocken, so gescheit oder so mutig wären; also keinesfalls deswegen, weil sie sich statistisch ausgerechnet hätten: Alle kann es ja nicht erwischen; daß es mich kostet, ist in Anbetracht der Größe der Herde gar nicht so furchtbar wahrscheinlich.

Sondern sie bewahren die Ruhe aus Unfreiheit ihrem Energiehaushalt gegenüber, sprich, weil der Aufwand, jedesmal gleich einen beschleunigten Puls, ein rasendes Herz zu kriegen und loszuwetzen so viele Kalorien verbrennen würde, daß man die beim kargen Angebot an Nahrung, welches die Natur für Antilopen nun mal bereithält, nur schwer wieder reinholen könnte (das Beispiel findet sich im auch sonst sehr lehrreichen Buch »Darwin’s Fox and My Coyote« von der o.a. Autorin). Was ich nun bei den denkenden Tieren in meinem Buch anstelle, funktioniert anders: Wie wäre es, wenn man die unsentimentale Kosten-Nutzen-Rechnung, diese durch die Kalorienökonomie bedingte Weigerung, sich von jedem Scheiß gleich in die Flucht schlagen zu lassen, ganz bewußt erleben könnte? Also Instinkt, aber als Vektorenergebnis eines Denkprozesses; Instinkt zweiter Ordnung. Das ist der vorherrschende Charakterzug meiner Tiere mit Sprache und liegt ziemlich nah an dem, was sich Nietzsche unter seinem so unglücklich benannten »Übermenschen« vorgestellt hat. Soll heißen, mir ist der Fuchs als Bankier einfach lieber als Nietzsches »blonde Bestie« (und der Löwe als Stalin von Disney sowieso).

Ein anderes Buch von Dir, »Dirac«, hat jemand mal als »linke Fantasy« bezeichnet. Trifft das nicht eher auf »Die Abschaffung der Arten« zu?

Nein.

Auf »Dirac« aber genausowenig.

Lassen wir das Linke mal weg – was ist das denn eigentlich, Fantasy, im Gegensatz zu den beiden anderen Untergattungen der heutigen Phantastik, Horror und Science Fiction? Fantasy ist diejenige Literatur, die sich mit den Gesetzen, Konsequenzen und Implikationen des magischen Denkens beschäftigt. Das magische Denken – Analogien, Totem, Tabu, Fetisch, Übernatürliches etc. – interessiert mich jedoch viel weniger als das wissenschaftliche – Induktion, Deduktion, Hypothesenbildung, Occams Rasierklinge etc. pp. Das heißt nicht, daß in der Science Fiction, der ich meine Bücher zurechnen würde, nichts passieren darf, was in Wirklichkeit unmöglich ist. Das heißt nur: Die Logik, die diese in solchen Büchern vorkommenden unmöglichen Dinge in eine Kette von Ursachen und Wirkungen einordnet, ist nicht die von Vergleichen und Symbolen und solchen Denkfiguren aus dem Fantasy-Bereich, sondern die Logik von Beobachtungen und daraus abgeleiteten, jederzeit korrekturfähigen logischen Schlüssen.

Fantasy beschäftigt sich mit Offenbarungen; Science Fiction damit, etwas auf anstrengendere Art herausfinden und anwenden zu müssen. Also nicht: Fantasy ist das Unmögliche, Science Fiction das Mögliche. Sondern: Fantasy will Erkenntnis-Effekte als Überwältigung durch das Nichtverstehbare, Science Fiction will dieselben Effekte als Beeindrucktsein von (durchaus manchmal gewaltigen) Arbeitsergebnissen. Gemeinsam haben die beiden Gattungen allerdings miteinander (und mit dem Horror, in dem es um das auf viszerale Wirkungen berechnete Erschüttern und manchmal Wiedererrichten von stabilen sozialen, sexuellen und sonstigen Ordnungen geht, weswegen Horrorelemente sowohl in SF wie in Fantasy Platz haben, da sich dieses Problem sowohl magisch wie wissenschaftlich betrachten läßt), daß sie versuchen, vollständige Welten zu suggerieren (nicht »zu erschaffen«, das geht ja nicht, das sagt man nur manchmal als größenwahnsinniges Kürzel so daher). Ich fand sehr nett, wie sich der große Wahnsinnige John C. Wright in der Widmung zu seiner soeben erschienenen Fortsetzung von A.E. Van Vogts Null-A-Geschichten bei Van Vogt bedankt hat: Dessen Welten, so Wright, seien in Wrights Kindheit diejenigen gewesen, die ihn, den lesenden Jungen, gern empfangen hätten, wenn er sich wieder mal von der andern, der empirischen sozialen Welt verstoßen gefühlt habe. Das ist, entgegen der beliebten Eskapismusschimpfe von Sozialpädagogen und anderen Wirklichkeitsdressurreitern, eine völlig legitime, im Gelingensfall sogar hoch ehrenwerte Leistung phantastischer Literatur oder Kunst. Ich meine, im Ernst, Kinder: Das könnte denen so passen, daß man ihre Scheißwirklichkeit nicht nur nicht verändern können soll, sondern noch nicht einmal das Recht zugestanden kriegt, sich mal eine Weile mit was ganz anderem zu befassen, um nicht komplett abzustumpfen.

Gehören Tiere nicht eher in die Fabel oder ins Märchen? Ist die humanistische Form »Roman« nicht eigentlich viel besser geeignet, etwas über Menschen zu erzählen, und ist das Erzählen vom Menschen nicht dein Job?

Menschen, Menschen… es gibt doch längst viel zu viele Menschen, irgendwann soll man’s auch mal gut sein lassen. Nicht nur in der Literatur. Überbevölkerung hin oder her, wie auch immer die Zahlen nun genau aussehen mögen, eins steht fest: Wenn es jeweils auch nur einen Einzigen von der Sorte George W. Bush, Robert Mugabe, Pol Pot oder Ahmadinejad gibt, dann gibt es bereits einen zuviel.

Ellen DeGeneres hat diesen qualitativen Aspekt des Menschenüberschusses in die schöne Formel gegossen: »The world is overpopulated with the wrong kind of people«.

Fabeln und Märchen? Kaum sagt man in Deutschland, man sei dafür, daß sich die Leute mal wieder ein bißchen an der Idee »Politische Praxis« orientieren lernen, wenn ihnen etwas nicht paßt, statt es nur nachts in ihre Laptops reinzubeten, wird man schon überall als Lafontaine-Anhänger geführt. Mir ist das passiert, da war nichts zu machen, den Stempel hatte ich nach »Maschinenwinter« unentfernbar auf der Stirn. Also hab ich mich damit abgefunden und ganz brav Lafontaine gelesen, um rauszufinden, was das denn sei, was ich da angeblich so vehement unterstütze. Als ich schließlich gemerkt habe, daß das ein ganz anderer war – Jean de La Fontaine, Verfasser so unsterblicher Gleichnisse wie »Die Schwalbe und die kleinen Vögel«, »Die Ratte und der Elefant«, et cetera – befand ich mich bereits mitten auf der Fährte zur Tierspekulation, da ging es dann gleich weiter mit Grandvilles »Bildern aus dem Staats- und Familienleben der Tiere«, Orwells alberner Farm usw.. Schnell hatte ich raus, daß die Figur »Tier« genau die richtige war, um etwas zu schreiben, was ich sowieso längst schreiben wollte – eine Evolutionsromanze – , und wofür der Ausdruck »Roman« eigentlich ein Etikettenschwindel ist. Ein nützlicher allerdings, er gibt die ungefähre Richtung gar nicht ganz verkehrt an: Epik, Breitwand, viele Figuren.

Wenn das Wort »Roman«, wie du sagst, nicht ganz genau stimmt, was ist »Die Abschaffung der Arten« dann für ein Buch?

Vielleicht ein langes Gedicht, in dem viel Geschichte vorkommt. Die Amerikaner, die in einem Staat leben, der noch nicht soviel Geschichte auf dem Kerbholz hat, haben es leicht gehabt im letzten Jahrhundert, sich zuzutrauen, so was Luftiges und Freies und Bewegliches, so was Schnelles wie ein Gedicht dazu umzurüsten, Geschichte zu behandeln – deshalb konnten sie Bücher schreiben wie »Paterson« von William Carlos Williams oder die »Cantos« von Ezra Pound. Der letzgenannte ist, würde ich sagen, das Vorbild, das mit dem Artenbuch vom Kopf auf die Füße gestellt werden sollte – sein Geschichtsbild, im genannten, sehr gut gedichteten, langen, schwierigen, schönen, oft auch ärgerlichen und verrückten Buch, handelt ja davon, daß es eine natürliche Ordnung gebe, und daß er sie wieder durchsetzen möchte, gegen die künstlichen Machenschaften der Leute, die er haßt

Ich glaube, wie es der Zufall so will, genau das Gegenteil: Wenn man Geschichte mit Natur verwechselt, kommt immer nur Unheil dabei raus – wenn man sie biologisiert, naturalisiert, wenn man nach Rassen und biologischen Geschlechtern und nach dem Recht des Stärkeren und solchen Sachen schielt, statt nach dem einzigen Erlösungspotential, das in dem ganzen Menschendurcheinander gegenständlich werden kann, der Vernunft.

Ich mag Künstliches, es kommt im günstigsten Fall von der Hochzeit zwischen Vernunft und Kunst. Also nehme ich eine Sache her, die der Inbegriff von Natur ist: Die wilden Tiere, und wie ihre Sorten einander ablösen, wie sie entstehen und vergehen, Evolution – und mache daraus einen Vorgang im Triangulationsfeld von Wissenschaft, Technik, Kunst. Meine Tiere, die im Buch Gente heißen, einfach »Leute«, sind so gescheit, so entschlossen, ihre eigene Geschichte zu leben und zu schreiben, wie ich die Menschen gern hätte.

Welche Bedeutung hat für dich – und, genauer: für das Buch – der Begriff »Evolution«?

Eine immense natürlich; das wäre die flapsige und orakelnde Antwort.

Die ausführliche müßte sich ein bißchen darum drücken, so weit zu gehen wie Hans Wollschläger, der in seiner »Anderrede vom Weltgebäude herab« die Evolution geradezu als den »sympathischen« und »durchaus denkbar möglichen« Endzweck des Weltganzen bezeichnet hat. Die Emphase darin wäre mir unangenehm; sie riecht ein bißchen nach dem berühmten »Sinn des Lebens«, der ja immer nur von denen gesucht wird, die unfähig oder nicht willens sind, sich diesen sogenannten Sinn auf die einzig mögliche Art zu besorgen, nämlich indem sie ihn setzen beziehungsweise erschaffen (er liegt nun mal nirgends fertig herum).

Für Sozialisten hat die Evolutionsidee den einen oder andern Stachel – schon der in dieser wie in vielerlei Hinsicht unglückliche Bucharin hat sich zunächst eher für Lamarck als für Darwin erklärt, weil ersterer die Erblichkeit erworbener Eigenschaften bejahte, während Darwin bekanntlich die Eigenschaften der Lebewesen als Ergebnisse adaptiver Komplexität in Gestalt der Auslese bestimmter zufällig aufgekommener Erbanlagen entlang dem Kriterium des Fortpflanzungserfolges sah. Die lamarckistische Denkschwäche einiger Sozialisten – man muß die Natur durch Erziehung ändern können, das ist der einzige Weg, sie zu überlisten – hat dann dem Spinner und Betrüger Lyssenko den Weg geebnet, der mit seinem schädlichen Schwachsinn die sowjetische Biologie auf Jahrzehnte verhunzt hat. Aber schon Bucharin, einem der Wegbereiter dieser Katastrophe, war andererseits klar, daß mit dem Entstehen der Genetik die ganze »Nature vs. Nurture«-Problematik tendenziell auf eine neue Stufe gehoben war, nämlich eine praktische, statt der theoretischen.

Ein echter Grund zum Seufzen ist immer wieder die fatale Selbstbewußtseinsschwäche bei vielen Linken, Erkenntnisse betreffend die Natur nicht wahrnehmen zu wollen – wer glaubt, die Natur stelle nicht die alleruntersten Fundamente auch einer sozialistischen Ordnung bereit, die man höchstens bearbeiten und schleifen darf, um zur Sache zu kommen, gibt diese Sache bereits verloren.

Soweit das alles »Die Abschaffung der Arten« angeht, ist der Witz, daß die genannten Probleme – wie richten wir eine möglichst weit fortgeschrittene, freie, mit genügend Potentialen zu weiterem Fortschritt ausgestattete Gesellschaft ein, ohne bei diesem Versuch die Lehren zu ignorieren, die uns die Naturgeschichte, also die Evolution erteilen kann – nur den verblaßten Hintergrund des im Buch verwendeten Grundszenarios abgeben; daß sie eigentlich alle gelöst sind (oder zu sein scheinen) an dem Punkt, an dem das Buch erst losgeht. Dann aber tauchen plötzlich diese Computergötter im Amazonasdschungel auf, und bald danach erscheint die neue Sorte universaler Freßfeind, die im Buch »Keramikaner« heißt und von der auch Darwin nicht so ohne weiteres hätte sagen können, ob sie nun eine Spezies ist, ein neues Phylum oder eine ganz andere Sorte Klassifizierung des Lebendigen verlangt.

»Evolution« ist im Buch schlicht die Voraussetzung dafür, daß es überhaupt eine Handlung gibt – das ist die nicht mehr flapsige, nicht mehr orakelnde, aber auch wieder schön kompakte Antwort.

Wie bist du auf den Einfall gekommen, daß die hochentwickelte Tierzivilisation im Buch durch ein »Pherinfonsystem« kommunikativ zusammengehalten wird, eine Art Internet zum Riechen?

Daß die lebendige Welt (nicht nur die von Raubtieren) in großem Maß olfaktorisch sortiert ist, daß der Geruchssinn entwickelter Tiere oft den Vorrang vor ihren sonstigen Sinnen innehat, ist eine Binse. Daß die Sexualität auch beim Menschen über Sachen wie die Pheromone läuft – neulich erst hab ich in der Drogerie Haargel entdecken müssen, in das man Pheromone gerührt hat, mit der expliziten Werbung, da locke Frauen an; er ist schon süß, unser Kapitalismus – ist ebenfalls bekannt. Hyänen, die einander gelegentlich auffressen, wenn es um Nahrungs- und Paarungs und Territorialkonkurrenzen geht, wären noch viel biestiger zueinander, wenn sie nicht bestimmte Schnuppersignale versenden könnten, die das verhindern. Alldem wollte ich nun die Abstraktionen gegenüberstellen, die bei uns in unserer Technozivilisation das bilden, was Marx »das reelle Gemeinwesen« nennt – also nach dem Motto: Geld stinkt nicht. Denn andererseits integriert diese Abstraktion, dieses Geld uns längst nicht so gut, wie Herr von Hayek und Herr von Mises glauben oder glauben machen wollen. Was wäre, wenn die Konkretheit der Geruchskommunikation sich mit der Abstraktheit des Geldverkehrs und des Informationsaustausches vermitteln ließe, die ein überall und stets ohne Zeitverlust verfügbares Kommunikationsmedium auf der Basis avancierter physikalischer Einsichten (Stichwort: EPR-Kommunikation) gewährleistet?

Würde das die gesamte Vergesellschaftungsform intelligenter Geschöpfe prägen; wäre das Soziale, das dabei herauskommt, grundsätzlich verschieden von allem, was wir Menschen als Gemeinwesen erkennen und anerkennen können? Das sind die Fragen, auf die meine Geschichte ein paar Antworten geben will.

Den Wortbestandteil »Infone« im für diese Zwecke erfundenen Begriff »Pherinfone« habe ich übrigens von dem Mathematikpublizisten Keith Devlin stibitzt; er scheint mir für die Einheiten, die da ausgetauscht werden, ein sehr treffendes, d.h. nützliches Wörtchen.

Was für eine Idee von Geschichte entwickelt das Buch? Naturgeschichte, Menschheitsgeschichte, Heilsgeschichte? Die Zeiträume sind ja sehr groß, um die es geht.

»Sehr groß« – i wo.

Man hat grob eintausendfünfhundert Jahre Handlung. Schön, von der Warte der, wie heißt das? »nächsten Legislaturperiode« aus betrachtet ist das eine Menge. Aber wenn man Evolutionsbiologen fragt – für die ist das, was vor 540 Millionen Jahren im Kambrium passiert ist, als plötzlich diese ganzen Schnecken und Würmer und das Opabinia-Monster aufgetaucht sind, lauter neue Arten, eine Explosion, ein Urknall, und damit meinen sie einen Zeitraum, der selber ungefähr 13 Millionen Jahre umfaßt, zwischen 539 und 543 Millionen Jahre vor unserer Zeit. Ein Schnappschuß. Und da redet »Die Abschaffung der Arten« davon, daß in fünfhundert Jahren – ungefähr die Zeitspanne von jetzt bis zum Beginn der Handlung des Buches – die ganze natürliche Ordnung umgegraben werden kann, die gesamte terrestrische Biosphäre generalüberholt, nach einem Plan, den man wohl nicht anders nennen kann als politisch.

Hier prallen die revolutionärsten Leistungen des menschlichen Hirns und die evolutionären Ressourcen dieser Welt, die es seit vier bis fünf Milliarden Jahren gibt, aufeinander. Und was dann passiert, ist im Grunde eine Zeitrafferwiederholung der ganzen Naturgeschichte – ein Rückgriff auf alles, eine Aneignung von allen, was sich begeben hat, seit alles angefangen hat, vielleicht ja wirklich, wie es bei Darwin in einem Privatbrief heißt, »in some warm little pond with ammonia, phosphoric salts, heat, light and electricity present«, und vielleicht nicht auf der Erde, sondern, wie die Panspermia-Lehre annimmt, irgendwo im Weltall. Der Punkt ist: seit wir Biotech haben, ist die Frage »Zufall oder Schöpfung« keine naturhistorische oder moralische oder theologische oder mythologische mehr, sondern eine praktische. Und da kann man dann ja mal überlegen, was die bisherigen Eigenschaften verschiedener theoretischer Erkundungen evolutionärer Fakten, vom Gradualismus über die adaptive Komplexität bis zum löchrigen Gleichgewicht der Arten, so an Metaphern bereitstellen für im weiten wie im engeren Sinne politische Philosophie und tatsächliche Politik – für das, womit und woraus Geschichte gemacht wird. Die Handlung im Buch ist ein Gedankenspiel dazu. Mehr nicht, weniger auch nicht.

Du hast von den historischen, politischen, wissenschaftlichen Gedanken gesprochen, die in den Tierfiguren verschlüsselt sind und in den Abenteuern, die sie zusammen erleben. Aber gibt es nicht auch private und persönliche Geschichten, die das Buch erzählt? Wie autobiographisch sind die? Wie autobiographisch können sie sein, wenn es doch um Tiere geht?

Also eine Geschichte, die jemand erzählt, ohne dabei auch etwas von sich zu erzählen, möchte ich wirklich nicht hören oder lesen müssen. Was meine persönlichen Angelegenheiten betrifft, sie sind drin, samt Herzblut, das ist allerdings nur für einen sehr kleinen Leserkreis interessant. Mir wäre es lieber, man versuchte, sich an eigene Erlebnisse zu erinnern, die sich vielleicht in denen der Figuren wiederfinden lassen. In diesem Sinne kann dann die Liebe miterlebt werden, oder der Haß, oder der Verrat, wenn sie im Buch vorkommen, und dabei macht es fast keinen Unterschied, ob es sich um Tiere, Menschen oder zwölfdimensionale blaue Schlüsselanhänger handelt. Es geht ein bißchen darum, eine prinzipielle Empfänglichkeit für diejenigen Kurzschlußschönheiten zu erreichen, die man gewöhnlich »poetisch« nennt – gibt es schönere Wörter als (um nur ein paar zu nennen, die keineswegs im Buch vorkommen müssen, um gute Beispiele fürs Gemeinte zu sein) »Dominikanermöwe«, »Silberwaldsalamander« oder »Tüpfelbeutelmarder«?

Was bedeuten die Tierbildchen von Daniela Burger, und warum gibt es nicht von allen wichtigen Tieren/Figuren im Buch eins?

Das hat, wie so vieles im Buch, wieder mit Ezra Pound zu tun – der hatte, außer einem unglaublich präzisen Empfinden für Rhythmen, auch die Gabe einer besonderen phanopoeia, das ist, wie er erklärt hat, der Anteil am Dichten, der sich damit befaßt, Bilder zu machen. Deshalb haben ihn Bildzeichen stark angezogen; chinesische Schrift vor allem, auch wenn sein Gebrauch davon linguistisch, wie eben so einiges bei ihm, nicht immer ganz astrein war. Aber jedenfalls war die Absicht dahinter, optische Ordnungen gedichtfähig zu machen und das Gedicht sichtbar – also man hat das Zeichen für Mann und das Zeichen für Wort, und wenn man sie kombiniert, entsteht das Zeichen für »Aufrichtigkeit«, der Mann, der zu seinem Wort steht. Ein Rebus, ein Bildkalauer, man muß da nichts Hochgeistiges im Schilde führen, es kann auch einfach ein guter Witz sein. Und die Sigla in »Die Abschaffung der Arten« & auf dieser Website stehen eben für bestimmte, im Buch sozusagen animierte, animistische Prinzipien, mehr für Totems als für handelnde Figuren –deshalb sind dann nicht allen Gestalten solche Dinger zugeordnet; vielleicht findet man beim Lesen sogar diejenigen, bei denen es schwierig wäre, sie auf ein Prinzip (Wirtschaftlichkeit, vergebliche Liebe, erfüllte Liebe, Stammestradition, Sozialismus etc.) zu reduzieren, die sympathischeren. Ich mag die Dachsenfrau, ich mag den Esel, aber für Sigla taugen sie nicht, dazu sind sie zu widersprüchlich. Hinzu kommt noch, daß auch bei den handelnden Figuren Vorsicht angebracht ist, was deren Identitäten angeht – manchmal sind zwei Figuren nur eine Person, oder zwei Personen nur eine Figur. Die Stammbäume, Partiale etc. sind kompliziert, man kann sie aber, teilweise auch mithilfe der Sigla, aus dem Buch herauskonstruieren. Muß man allerdings nicht. Wenn nur Leute Musik hören und mögen könnten, die Notenlesen gelernt haben ... na ja.

Was ist eigentlich dieses »Wetzelchen«, nach dem einige der Tiere suchen, an das andere glauben wie an den heiligen Gral? Mal sieht es so aus, als wäre das was ganz Persönliches, dann wieder scheint es dabei um eine ganz aufgedonnerte, mystische Idee zu gehen. Also welches von beiden?

Die Antwort steht im Buch, genauer: Die Antworten stehen da; es sind mehrere. Aber einen Hinweis, wie beim Rätsel, kann ich geben, ein Zitat aus Adornos wunderschönem Aufsatz über das »Spuren«-Buch von Ernst Bloch nämlich, wo es um eine ganz ähnliche Frage geht, Persönlichstes oder Abstraktes, wo er Blochs Erzähltechnik beschreibt und lobt: »Das zweigeteilte Goethesche Glück, das der nächsten Nähe und der höchsten Höhe, wird bis zum Brechen zusammengebogen; das der nächsten Nähe sei nur eines, wenn es das der höchsten Höhe meint, und nirgendwo sei die höchste Höhe anwesend als in der nächsten Nähe.«